In den persönlichen ADHS-Abgründen lauert der Stress – also überall
Beginnen wir mit Dingen, die am Abend noch da waren, jedoch am Morgen völlig überraschend verschwunden sein können, um sich dann entweder an ihrem Platz oder völlig woanders anzufinden, Zeitverlust / Abfahrtsverzögerung mind. 10-15 Min.:
Handy, Autoschlüssel, Schal, Mütze, Handschuhe, der eine Pullover mit dem Rollkragen, meine Zahnbürste, sämtliche Feuerzeuge des Haushalts, einer der Hunde, ein Schuh, die DVDs aus der Bücherei, der letzte vernünftige Gürtel, den ich noch habe – muss mal einen neuen kaufen, denke ich zum x-ten Male, muss ich mir endlich mal aufschreiben, sonst denk ich nie dran.
So verkläre ich mir die Situation eingedenk der zahl- und fruchtlosen Ein-bis-zwei-Produkte-Listen, die kurz nach Erstellung sofort von mir vergessen werden und zerknüllt in der Hosentasche landen. Meist finden sie ihr Ende im Schleuderwaschgang unserer gern mal auslaufenden Waschmaschine, um hiernach als lästige Zellstoffwiedergänger sämtliche betroffene Kleidungsstücke bis zum nächsten Waschgang untragbar zu machen. Immerhin sind sie weiter gekommen als jene verwaisten Möchtegern-Listen, die noch nicht einmal mehr vom Block abgerissen wurden – wenn sie nicht eh als Totgeburt komplett unleserlich irgendwo an den Rand einer Tageszeitung gekritzelt wurden, am besten noch mit sich in das Yellow-Press-Papier hineinsaugender Tinte, so dass ich auch auf jeden Fall blaue Finger bekomme, über deren Abdrücke man sich noch Tage später im Hause wundern darf.
Doch kann es zu Abweichungen bereits viel früher am Tage kommen, dramatischerweise bereits gleich nach dem Aufwachen. Als passionierter Lastminute-Aufsteher per natura hat man es nicht leicht. Das Klo ist wahrscheinlich besetzt, die Familie genervt, weil gleich meine allmorgendliche aller Nerven blank legende "Dingesuch-Arie" losgeht, dabei hätten sie, anstatt zu meckern, mir doch – das ist ja wohl das Mindeste, man weiß doch, dass ich es schwerer habe als sie - bereits alles zusammensuchen können! So postuliere ich innerlich in kurz aufflackerndem „Dandygehabe“ und wähne mich dabei noch im Recht, eine meiner leichtesten Übungen.
Ich wäre eine großartige Bienenkönigin, denke ich und meine Gedanken streifen ab in romantisch verklärend bizarre Bilder von mich warm, satt und sauber haltenden Drohnen, so dass ich ohne Ablenkung für nicht mehr und nicht weniger als den Fortbestand meiner Spezies sorgen kann. Eine äußerst ehrenwerte Aufgabe, die nur den progressivsten Modellen einer Spezies vorbehalten ist, denke ich, Krone der Schöpfung, in versonnener Selbstverherrlichung.
Da ist es mir auch schon gelungen, den ersten Socken anzuziehen – Socken und Unterwäsche sind jetzt kein Problem mehr, sie sind jetzt in der Kommode direkt am Bett, ein genialer Einfall meiner Frau, die lapidar meinte, alle würden das so machen. Tatsächlich? Und warum erfahre ich davon über 40 Jahre nichts und warum bin ich nicht von selber drauf gekommen??? Allerdings nicht, ohne diesen Vorgang zu unterbrechen, weil irgendetwas da irgendwo am grauen Morgenhorizont offenbar so sehr mein Interesse erweckt, dass ich in eine kurzzeitige "Ausdemfensterstarrtrance" falle, aus der ich souverän von meiner Liebsten mit einem Fingerschnippen vor meinem Gesicht und den Worten Adam, Beeilung, wir müssen jetzt los! auferweckt werde.
Aber ach, oh je, Formfehler. Das Wort jetzt bedeutet: jetzt, genau diesen Moment, an dem sie dies hier lesen, und nun ist jetzt auch schon wieder vorbei, und gleich kommt ein neues Jetzt, sehen Sie, was habe ich gesagt, aber lassen wir das. Na ja, fast.