ADHS & Urlaub

Während ich diese Zeilen tippe, befinde ich mich: im Urlaub (ja, ist es dann noch einer?), zwar zuhause, aber frei von morgendlichem Wecker-Diktat und allabendlicher, meist scheiternder „Schlafenszeitregulationszwangsmaßnahmen“. Das ist ja schon mal die halbe Miete für ein freies, selbstbestimmtes Leben. Gelingt einem dann noch der Kunstgriff, dass auch die Wochentage keine Rolle mehr spielen, bekommt man eine Ahnung davon, wie herrlich es gewesen sein muss, als nur das Wetter und der Stand des Mondes des frühen Menschenalters Taktung vorgaben.

Doch bevor ich mich verklärend pantheistischer Romantizismen hingebe, komme ich zurück ins Hier & Jetzt, nicht aber, ohne von einem guten Freund zu berichten, der einstmals auf „Abenteuerurlaub“ irgendwo in Afrika unterwegs und dort an einer Bushaltestelle irgendwo im Nirgendwo angekommen war. Er fragte sogleich einen einheimischen Wartenden, wann denn der Bus käme, der wiederum ganz gelassen folgende, gleichsam den Himmel und die Hölle eines jeden ADHS‘lers abbildende Antwort zum Besten gab:

„Maybe today, maybe tomorrow.”

Die Zeit ist ein wundersames, von Menschenhand erschaffenes Konzept

Wir glauben nur zu gern, dass sie vergeht, dabei sind vielleicht nur wir es, die wir uns in ihr bewegen. Es mag sein, dass wir, im Angesicht der Ewigkeit, uns dazu genötigt sahen, diese zu kartografieren und so scheinbar messbar und kontrollierbar machten — die Zeit ist Zahl, ein Abbild von Wirklichkeit, eine mögliche Sichtweise, eine Illusion von Objektivität eines subjektiven Empfindens. Die Dekonstruktion dieser Idee von Linearität, die Erweiterung unseres Verständnisses der durch unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten begrenzten und manipulierbaren Sicht der Dinge, eröffnet uns, die wir im Moment gefangen und verloren sind, eine Möglichkeit, die man sonst nicht sieht oder für möglich hält: Die Abkehr vom Diktat der Zeit, zumindest temporär, zumindest im Urlaub.

Denn eines, so denke ich, fühlen und erfahren tagtäglich Menschen mit ADHS ganz im Besonderen und kommen, so lange sie an dieser Stelle nicht verinnerlichen, dass nicht sie der Fehler im System, sondern das System selbst der Fehler ist, aus diesem permanenten Unbehagen nicht heraus: Gesund und richtig ist er nicht, der von uns selbst gemachte Zeitstress, die enge hektische Taktung unseres Alltags, in der es oft um Minuten und in den künstlich geschaffenen Pseudorealitäten, wie z. B. der Börse sogar um Millisekunden geht, die dann (und der doch angeblich aufgeklärte Mensch unserer Zeit nimmt dies fatalerweise tatsächlich als gegeben hin!) über den Zusammenbruch von Existenzen entscheiden können. Leider richtet dieses abstrakte System nicht nur über den Personenkreis, der sich dafür entschieden hat, innerhalb dieser Scheinwelten die eigene Existenz zu definieren, sondern zerstört auch das reale Leben gänzlich unbescholtener Menschen, die den Fehler gemacht haben, den Augenwischereien jenes Systems Glauben zu schenken.

Urlaub – in der Vergangenheit

Ich hatte selbst so eine Zeit. Hyperfokussiert auf die Arbeit war ich der Illusion erlegen, dass diese mein wahres Leben wäre, so dass, sobald der brav vorgeplante, eingereichte und von „Oben“, jener ominösen Entität, die wir im allgemeinen „Personalabteilung“, „Buchhaltung“, oder „Geschäftsleitung“ nennen und auf die wir nicht wenige hoheitliche, lebensbestimmende Rechte übertragen haben, abgesegnete Urlaub anzutreten war, ich in ein Loch fiel.
Üblicherweise fand sich dann eine mehr oder weniger an den Haaren herbeigezogene Problematik, die es einem ja unmöglich machte, tatsächlich loszulassen, sondern stattdessen von zu Hause noch E-Mails schreiben, Telefonate führen, Texte verfassen und das Diensthandy nicht ausschalten zu müssen. Wie konnte ich nur so dumm sein!

Zum Glück, wie ich heute sagen kann, war dieser Versuch der Vollanpassung an das ans Leistungsprinzip gebundene „Arbeitnehmer-Herdensystem“ von Vornherein zum Scheitern verurteilt, so wie es das immer ist, wenn Menschen mit unserer speziellen Mentalstruktur versuchen, sich was vorzumachen, wenn es um die Selbstverortung im grünen Bereich geht, obwohl alle Anzeichen, Fakten und zum leise Flüstern genötigten inneren Stimmen dagegen sprechen. Nach dem Ringen gegen die Realität, dass man ja bekanntlich nie gewinnen kann, folgte der Burnout. Mehrmonatiges Zwangspausieren, das mit der Zeit, umdenken hilft, zum Extraurlaub mit der Chance, sich selbst zu finden, avancierte.

Als Kind bedeutete Urlaub (damals nannte sich die vom Staate dem Bürgerkinde selbst zur freien Verfügung gestellte Zeit natürlich noch „Ferien“) vor allem: Lange wach bleiben! Kein Einschlafzwang, weil man ja am nächsten Tag zur Schule müsse. Stattdessen draußen toben, quasi so lange man wollte, danach lesen bis zum Morgengrauen, kurz schlafen, … und weiter!

Urlaub – jetzt und heute

Heute ist das im Prinzip immer noch so. Urlaub gibt mir außerdem das Recht, die ganze Nacht vor der Playstation zu versacken, oder beim „Binge Watching“ morgens um 3 Spiegelei zu brutzeln.
Ich kann nach durchwachter Nacht sehr früh morgens mit den Hunden Joggen gehen oder an den Strand und mich danach im Liegestuhl kurz Schlafen legen, bis ich liebevoll zum Frühstück aus meinen Schäfchenwolkenträumen geweckt werde. Am allerliebsten aber schlüpfe ich zur Dämmerung zu meiner Liebsten unter die Decke, um gemeinsam mit ihr in der Morgenröte alle Zeit zu vergessen. Kein Wecker, der uns aus unserem Glück reißt, keine Eile, keine Pläne, kein Pflichtprogramm, nur Lebenslust und Liebe.

Dass Schlaf nicht meine Sache ist, und schon gar nicht in den üblicherweise dafür vorgegeben Zeiten, ist innerhalb der Arbeitszeiten natürlich immer wieder ein Problem. Da wird ADHS zur Anpassungsstörung und mein mir zu eigener Lebensrhythmus mitunter zum Stressfaktor.

„Im Urlaub aber, da lasse ich meine biologische Uhr ticken, wie sie eben tickt, ob sie nun ADHS oder Adam heißt.”

Seit frühester Kindheit ist die dänische Nordsee der Ort, an dem ich am meisten Frieden finde. Als Kind tobte ich – bevor wir alle überhaupt wussten, dass es so etwas überhaupt gibt, machte ich dem H in ADHS schon alle Ehre, an Energie mangelte es mir definitiv nicht, wie man auf vielen alten Familienfotos sehen kann. Raten Sie mal, wer immer derjenige mit hochrotem Kopf, mitten in Bewegung oder sonst wie am Faxen machen ist ... – stundenlang, angetrieben von den nie endenden Geschichten meiner unbändigen Fantasie, als Geheimagent, Cowboy oder Superheld über die Dünen, wanderte tief versunken auf der Suche nach Muscheln, Bernstein oder in Farbe und Form meine besondere Aufmerksamkeit erregenden Steinen über den Strand oder kämpfte mich furchtlos bis tollkühn durch die Wellen. Wie ein kleiner Korken blieb mein Köpfchen meist oben und wenn mich doch eine Welle erwischte und auf den Strand zurückwarf, fühlte ich mich erst recht angestachelt, mich der See zu stellen. Ich liebe es noch heute (und weiß natürlich um das ADHS-spezifische „danger seeking“), das Herzklopfen, wenn die stürmische Nordsee sich mit mächtigen Wellen zur Naturgewalt deklariert, eine Ehrfurcht gebietende Woge nach der anderen brandet heran. Ihr Kamm bricht vor oder über mir, schleudert und schüttelt mich ordentlich durch, dass es eine wahre Freude ist. Mir wurde berichtet, dass ich dann juchze, schreie und durchs Wasser springe, wenn ich ganz eins mit der Natur bin. 

Die Nordsee und ich, wir sind gute Freunde.

Wenn Freude in der Natur empfinden die Kosten eines Kleinwagens mit sich bringt

Kite- und Windsurfen und all solche Sachen halte ich übrigens für Gedöns, von der Freizeitindustrie der narzisstischen Gesellschaft ins Hirn gepflanztes Productplacement für Besserverdiener und Poser, die ein Gefühl für die einfachen Freuden des Lebens schon lange verloren haben.

Ich weiß, dass man die Leute nicht alle über einen Kamm scheren darf, aber hey, wenn Freude in der Natur empfinden, die Kosten eines Kleinwagens mit sich bringt, dann läuft zwangsläufig wohl etwas falsch. Um gleich weiter in diese Kerbe zu hauen: Es gibt Menschen, die empfinden es als Urlaub, ebendiesen vollzustopfen mit Terminen, um dann, wohlmöglich noch in Gruppen mit fremden Leuten, sich in fremden Städten umherkutschieren zu lassen und für diesen Zeitraum ihr Herz für die dortigen kirchlichen Prunkbauten zu entdecken, ansonsten aber von sich behaupten, mit Religion nicht viel am Hut zu haben – ja, geht’s noch?

Die Auseinandersetzung mit der Kultur ist ja definitiv erstrebenswert, wird aber von der Tourismusbranche nicht abgedeckt. Wenn man Kultur erfahren möchte, sollte man schon selber los, allein, ohne „Führer“ und Orte-Foto-Weiter-Hopping.
Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel, man will das Outback ja überleben. Aber selbst da, im kleinen Grüppchen im Geländewagen im Herzen Australiens, wo alles von Wasser, einem intakten Motor und einem wachsamen Fahrer abhängt, mokieren sich die Gäste, dass der Guide ja so ein schlechtes Englisch spricht und überhaupt kein Einheimischer sei und überhaupt und so, und das bei den hohen Kosten...
Unser Guide, Schwarzafrikaner, hatte den Job übrigens nur angenommen, um Erfahrungen für eine eigens Projekt in seinem Land zu sammeln. Er feixte sich mitunter eines, ob der unbeholfenen Weißbrote mit ihren hohen Näschen, die Zuhause vielleicht das Führen gewohnt waren, aber ahnungslos, wie ein Leben diesseits der eigenen Komfortzone aussehen kann.

Wären sie doch nur auf ihren Surfbrettern und Snowboards unter ihresgleichen geblieben, anstatt serviles Gesinde in der tödlichsten Gegend der Welt zu vermuten!
Leider kann man sich seine Mitreisenden nicht immer aussuchen, wenn man sich auf derlei Events einlässt...
Ach ja, die Event-Kultur, der für den Urlauber vorgeplante Urlaub, stramme Zeitpläne, abzuarbeitendes gemeinsames Programm, notorische territorial anmutende „Sitzplatzgewohnheitsrechtsansprüche“, Grüppchenbildung, klingt ganz schön nach Arbeit, was? Meine Liebste erklärte mir (ich völlig fassungslos ob der Erkenntnis, dass Menschen sich so etwas freiwillig in ihrer Freizeit antun), wieso sie und ihr damaliger Partner in ihrer vorherigen Ehe meist zu Event-Urlaub mit tagesfüllendem Programm mit anderen, bis dato fremden Familien tendierten, mit folgenden Worten:

„So mussten wir uns zumindest nicht miteinander auseinandersetzen.”

Urlaub als Fassade für die Flucht vor der Wirklichkeit

Ja, das kenne ich auch. Aus Zeiten, in denen die Komorbiditäten herrschten. 2 Wochen Vollrausch, ohne dass man für die Arbeit unterbrechen muss. Na ja, wenigstens nicht am Ballermann. Hat aber mit ADHS auch nicht viel zu tun, mehr so Volksport geworden für die jungen Leute. Dass ich so etwas mal sagen würde...

Vom Austoben zum Abhängen als ideale Urlaubsvorstellung war es ein langer Weg, so wie es ein langer Weg war, dass sich aus der rastlosen nomadischen Seele, die ich einstmals war, der sesshafte Familienmensch, der ich nun bin, herausschälen konnte. Die Fähigkeit zur Ruhe zu kommen musste mühsam erlernt werden. Ebenso die Fertigkeit, meine Leute nicht in den Wahnsinn zu treiben, wenn es auf Reisen geht.

Die Herausforderung des Packens

Vor der Diagnose versank alle Urlaubsplanung spätestens beim Packen ins Chaos. Am besten lässt man mich meine Sachen auch heute noch kurz vor Reisebeginn packen, ansonsten droht ein ewiges Ein- und Auspacken, weil nicht sicher ist, ob die grüne Badehose – und was ist denn das da für ein Hemd, ich wollte doch das andere – und wo ist eigentlich mein „Perso“? Und die Buchungsbestätigung, brauchen wir die? Und was, Schuhe??!! Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht! So schwanke ich zwischen minimalistischstem Gepäck – ich kann ja sonst vor Ort noch mal was kaufen – und dem Drang, einfach alles einzupacken.... Ungefähr 72 Stunden vor Abfahrt endlich Klarheit darüber zu haben, welche Bücher mitzunehmen sind (mitunter die einzige Problematik, mit der ich mich im Vorfeld intensivst beschäftigte, meist wurde es dann ein halber Koffer voll, gelesen wurde natürlich nicht mal ein Viertel). Nun mussten diese nur noch gefunden oder besorgt werden, welch herrlicher Extrastress auf uns alle herniederprasselte, wenn diese im Internet bestellt wurden und ich allen Ernstes davon ausging, sie würden noch vor Abfahrt geliefert werden können. Inzwischen ist es zum Glück für alle Beteiligten anders.

Was ist geblieben?!

Eines ist aber immer geblieben: Wenn ich mit den Hunden morgens um 5 Uhr an den Strand gehe, habe ich den meist für mich ganz allein, kilometerlang. Keine Menschenseele außer mir, ggf. in Begleitung meiner Liebsten oder/und meiner Töchter.
Nur die Natur, der Wind, die Wellen, der weite Horizont und alle Zeit der Welt. Dann empfinde ich Glück und Frieden. Und möchte nie mehr woanders sein – außer Zuhause.

Ich habe außerdem Hotels schätzen gelernt, aber auch die Matratze hinten im Bus reicht für meine Liebste und mich aus, um ein paar herrliche Tage und Nächte abseits von allem Alltag verbringen zu können – Zeit nur für uns.

Und die ist wichtiger denn je. Denn zuletzt hing der Haussegen schief. Zu wenig schöne gemeinsame Zeiten. Zu viel Stress, zu viel Außen, dass unsere kleine Trutzburg der Liebe mehr und mehr zu bedrängen schien. Alle üblichen Tricks und Kniffe, um die Misere in den Griff zu bekommen, schlugen fatalerweise nicht an. Wir hatten begonnen, uns im Kreise zu drehen, der sich leider als eine Spirale abwärts offenbarte, mein Gefühl, meiner Liebsten ein glückliches Leben bereiten zu können, schwand. Etwas war ganz gehörig nicht in Ordnung. Selbst die therapeutisch begleitete Vergangenheitsbewältigung führte nicht zum gewünschten Erfolg. Mehr und mehr fühlte ich mich durch meine Frau daran erinnert, wie ich selbst einmal war, wenn ihr negatives Empfinden wieder einmal überhandnahm und sie nicht den Weg fand, zurück ans Licht.

Und dann, zu Beginn des Urlaubs, als endlich wieder mehr Zeit füreinander da war, wuchs aus dem Leid eine Vermutung, die sich tatsächlich fachärztlich bestätigen sollte, und alle Puzzleteilchen fügten sich wie damals bei mir: Meine Frau hat AD(H)S!

Mehr demnächst, versprochen!

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