Wie unterscheiden sich ADHS-Komorbiditäten bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen?
Eine reine ADHS ohne komorbide Störung ist eine Ausnahme. Insgesamt 50 bis 87 % der ADHS-Betroffenen leiden an mindestens einer Begleiterkrankung. Etwa ein Drittel der ADHS-Patient:innen sind sogar von zwei oder mehr zusätzlichen Erkrankungen betroffen!
Mit der Schwere der ADHS steigt dabei auch das Risiko, dass Betroffene zusätzlich an einer Begleiterkrankung leiden.
Diese Begleiterkrankungen sind aber sehr individuell und unterscheiden sich in ihrer Ausprägung auch stark je nach dem Alter der Patient:innen. Trotzdem sind komorbide Störungen in allen Altersklassen häufig: So weisen etwa 80 % der Erwachsenen und 50 bis 90 % der Kinder mit einer ADHS mindestens eine Begleiterkrankung auf.
Bei Kindern treten zusätzlich zur ADHS am häufigsten oppositionelle Störungen des Sozialverhaltens auf, wie z.B. ständige Widerworte oder das Nichteinhalten von Regeln. Sogar bis zu 50 % der ADHS-Kinder zeigt dieses Bild. Mit fortschreitendem Alter nimmt deren Häufigkeit aber ab, bis sie noch höchstens ein Viertel der Erwachsenen betreffen.
Auch Sprachstörungen und affektive Störungen kommen bei Kindern häufig neben oder infolge der ADHS vor. So leidet zirka ein Viertel der Kinder an Angststörungen, und knapp ein Fünftel an depressiven Störungen. Im Vergleich zu den Kindern schwankt das Auftreten von affektiven Störungen im Erwachsenenalter stark. Dort werden unipolare Depressionen (ohne alternierende Episoden, also dem Wechsel zwischen depressiven und manischen Phasen) etwas häufiger beobachtet als bipolare affektive Störungen.
Weitere Begleiterkrankungen, die bei ADHS-Kindern auftreten, sind Lernstörungen, wie z.B. eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, Defizite in der Verarbeitungsgeschwindigkeit und Motivation oder Tic-Störungen.
Bei Erwachsenen ist eine der prominentesten Begleiterkrankungen der ADHS eine Suchterkrankung. Dabei kann es sich um Substanzabhängigkeiten handeln, wie etwa von Nikotin, Alkohol oder Drogen, oder auch um Shopping-, Internet- oder Computerspielabhängigkeiten. Auch bei Jugendlichen mit ADHS kann es bereits zu Abhängigkeitsstörungen kommen. Dabei zeigen diese ein höheres Risiko sowie ein niedrigeres Einstiegsalter als Gleichaltrige ohne ADHS. Andere Komorbiditäten, die vorwiegend Erwachsene betreffen, sind Essstörungen, Adipositas und eine Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Warum ist die Differentialdiagnostik zur Abklärung von potenziellen mit ADHS assoziierten Komorbiditäten so wichtig?
Die korrekte und voneinander abgegrenzte Diagnose einer ADHS und ihrer Begleiterkrankungen ist nicht einfach. Besonders im Erwachsenenalter überschattet die Häufigkeit von auftretenden Begleiterkrankungen oftmals die eigentliche ADHS-Diagnose. Wenn eine Begleiterkrankung vorliegt, wird die ADHS-Diagnose oft übersehen. In manchen Fällen kommt es auch vor, dass die ADHS mit einer anderen, in ihren Symptomen überlappenden Störung verwechselt wird – also eine Fehldiagnose gestellt wird.
Somit tragen die häufig und zahlreich auftretenden Begleiterkrankungen auch einen hohen Anteil an der Krankheitslast einer ADHS und können die Lebensqualität von Betroffenen stark beeinträchtigen.
Eine ADHS trägt kein charakteristisches Symptom, das eindeutig für sie kennzeichnend ist; stattdessen überlappen die zahlreichen ADHS-Symptome mit unterschiedlichen anderen Störungen.
Wenn die ADHS gemeinsam mit anderen Erkrankungen auftritt, so kann das neben der Diagnostik auch die Therapie beider Erkrankungen beeinträchtigen. Vor Behandlungsbeginn müssen daher alle vorliegenden Komorbiditäten geklärt sein. Koexistierende Störungen sollen leitliniengerecht behandelt werden. Bei der Entscheidung, welche Störung zuerst behandelt werden soll, soll u. a. der Schweregrad der Störungen berücksichtigt werden. Die individuelle Therapie sollte stets mit dem behandelnden Arzt bzw. der behandelnden Ärztin besprochen werden.
Mehr Informationen zur Therapie einer ADHS finden Sie hier.
ADHS und Depression
Eine Depression ist die häufigste psychiatrische Begleiterkrankung bei ADHS-Betroffenen. Menschen mit einer ADHS haben sogar ein etwa fünffach erhöhtes Risiko, an einer Depression zu erkranken!
So liegt die Prävalenz, also die Häufigkeit einer schweren Depression bei erwachsenen ADHS-Patient:innen bei 18,6 %. Dabei leiden Frauen mit einer ADHS häufiger an Depressionen als ADHS-Männer. Umgekehrt liegt die Prävalenz von ADHS bei Menschen mit einer Depression bei 12,3 %.
ADHS und Angststörungen
Etwa ein Drittel der Kinder und sogar die Hälfte der Erwachsenen mit einer ADHS weisen eine zusätzliche Angststörung auf. Darunter fallen zum Beispiel Zwangsstörungen, Panikstörungen oder Sozialphobien. Somit ist das Risiko für ADHS-Betroffene um das Vierfache höher als bei Nichtbetroffenen. Bei Frauen mit einer ADHS ist eine Angststörung die am häufigsten auftretende Begleiterkrankung.
Ähnlich wie bei begleitenden Depressionen entstehen Angststörungen häufig erst infolge der zugrundeliegenden ADHS: Erleben Kinder mit einer ADHS zunehmend Gefühle von schlechtem Abschneiden bis Versagen in der Schule oder soziale Schwierigkeiten aus einem Gefühl des „Nicht-Akzeptiert-Werdens“ heraus, kann sich ihr Selbstwert erheblich mindern und zur Entstehung einer Angststörung führen.
ADHS und Suchterkrankungen
Abhängig werden kann man von vielen unterschiedlichen Dingen. Dazu gehören zum Beispiel Alkohol und andere Drogen, aber auch das Internet und Computerspiele oder Glücksspiel.
Bei ADHS-Betroffenen besteht eine höhere Suchtgefährdung als beim Rest der Bevölkerung. Dementsprechend entwickeln Personen mit einer ADHS auch zwei bis drei Mal häufiger eine Nikotin-, Alkohol-, Cannabis-, Kokain und/oder andere Drogenkonsumstörung als Personen ohne ADHS. Insgesamt leiden etwa 15 % der Erwachsenen mit einer ADHS zusätzlich unter Suchterkrankungen. Umgekehrt sind unter den Erwachsenen mit Substanzgebrauchsstörungen 24 % von ADHS betroffen.
Bereits bei Kindern und Jugendlichen können Abhängigkeitsstörungen zum Problem werden. Leiden diese unter einer ADHS, so treten Substanzabhängigkeiten zum Beispiel früher auf als in einer entsprechenden Vergleichsgruppe. Auch das Rückfallrisiko ist erhöht.
Ein besonderer Fokus bei Kindern und Jugendlichen liegt dabei auch in der viel diskutierten exzessiven Nutzung von Internet und Computerspielen. Die Computerspielabhängigkeit (Gaming Disorder) ist mittlerweile eine anerkannte psychische Störung. Kinder mit einer ADHS haben einer Studie zufolge einen höheren Wert im Gaming Disorder-Ranking als eine Vergleichsgruppe.
ADHS und Schlafstörungen
Auch Schlafstörungen sind unter ADHS-Betroffenen weit verbreitet. Darunter fällt vor allem die Schlaflosigkeit (in der Fachsprache Insomnie genannt), also Schwierigkeit beim Ein- und Durchschlafen oder ein verfrühtes Aufwachen am Morgen. Etwa die Hälfte der Kinder und Erwachsenen mit einer ADHS leiden unter Schlafstörungen. Unter den ADHS-Patient:innen sind Frauen dabei häufiger betroffen als Männer.
Kinder mit einer ADHS schlafen oft viel unruhiger als Gleichaltrige ohne ADHS, und auch mit mehr Unterbrechungen. Schon im Säuglingsalter sind diese Kinder meist von Schlaf- und anderen Regulationsstörungen betroffen.
Ein unterbrechungsreicher Schlaf stört die innere Uhr und kann sich wiederum auf das Verhalten am Tag auswirken. Betroffene können dann oft nur eingeschränkt ihren Tagesaufgaben nachgehen. Als Folge kann es dann auch zu typischen ADHS-Symptomen kommen wie verminderter Aufmerksamkeit, Schwierigkeiten bei der Regulierung von Emotionen und Verhalten, sowie eingeschränkter kognitiver Leistung, z.B. Gedächtnis- und Konzentrationsdefiziten.
ADHS und Bipolare Störung
Die bipolare Störung ist eine affektive Störung, die sich durch abwechselnde Phasen von Depression und Manie, also Phasen ungewöhnlich hoher Stimmung, Energie und Aktivität, auszeichnet. Etwa 3 bis 14 % der Erwachsenen mit ADHS leiden zusätzlich an einer bipolaren Störung. Umgekehrt liegt die Prävalenz einer ADHS bei erwachsenen Patienten mit einer bipolaren Störung bei 10,8 %.
Die Lage bei Kindern ist diesbezüglich komplex. Studien zufolge haben Jungen und Mädchen mit einer ADHS eine höhere Wahrscheinlichkeit, als junge Erwachsene eine bipolare Störung zu entwickeln. Dies ist jedoch kontrovers diskutiert. Ebenfalls umstritten ist die Diagnose „bipolare Störung“ bei Kindern. Stattdessen wurde das Störungsbild der disruptiven Affektregulationsstörung eingeführt, das durch Frustrationsintoleranz und durchgängige Reizbarkeit gekennzeichnet wird. Viele Kinder mit dieser Diagnose zeigen zusätzlich charakteristische Symptome einer ADHS; diese sollte dann aber getrennt diagnostiziert werden.
ADHS und Borderline
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist charakterisiert durch Schwierigkeiten mit der Identität, dem Selbstbild und der Selbststeuerung. Weiterhin zeigt sie eine ausgeprägte Impulsivität, sowie Verlassensängste und daraus resultierende Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Bei ADHS-Betroffenen liegt die lebenslange Prävalenz von Borderline bei etwa 33 %. Sehr ähnlich dazu liegt umgekehrt die Prävalenz von ADHS bei Patient:innen mit Borderline bei etwa 32 %.
ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen
Das Feld der Autismus-Spektrum-Störungen ist vielfältig. Laut internationaler Klassifikation fallen darunter die Diagnosen „frühkindlicher Autismus“, „atypischer Autismus“, „Asperger-Syndrom“ und „sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörungen“. Betroffene zeichnen sich v.a. durch Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion oder durch repetitives Verhalten, also dem Wiederholen bestimmter Handlungen aus. Diese lebenslangen Einschränkungen sind schon früh in der kindlichen Entwicklung präsent.
Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung werden von der Gesellschaft eher als in sich gekehrt wahrgenommen, während ADHS-Betroffene als extrovertiert und quirlig gelten. Wie passen diese beiden Diagnosen also zusammen?
Tatsächlich war es medizinischem Fachpersonal lange Zeit nicht möglich, die Diagnose ADHS zu stellen, wenn bereits eine Autismus-Diagnose vorlag, und umgekehrt, da diese jeweils als Ausschlusskriterien galten. Mittlerweile wurde jedoch erkannt, dass beide Störungen durchaus gemeinsam auftreten können. Bei Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung liegt die Prävalenz einer ADHS bei 45 %.
Dabei ist es sogar möglich, dass es ursächliche Zusammenhänge zwischen den Symptomen einer ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen gibt. So kann es etwa sein, dass die ADHS die eingeschränkte Sozialkompetenz bedingt, oder dass es Betroffenen durch die Hyperaktivität weniger leicht möglich ist, motorische Bewegungen einzuschränken, was zu repetitiven Verhaltensweisen wie Schaukeln des Oberkörpers oder Drehen der Hände führt. Ebenfalls gibt es gemeinsame genetische Faktoren, die beiden Störungen zugrunde liegen.
Das könnte auch die sich überschneidende Symptomatik erklären: Sowohl ADHS-Betroffene als auch Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen zeigen Unaufmerksamkeit, soziale Dysfunktion oder emotionales Verhalten wie etwa Wutausbrüche. Die Gründe hierfür sind jedoch unterschiedlich, da Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen nicht mit einer Veränderung ihrer Umgebung umgehen können, während ADHS-Betroffene aus Impulsivität und schlechter oder fehlender Selbstkontrolle heraus agieren.
Die gemeinsame Symptomatik kann, wie auch bei anderen Komorbiditäten, die Diagnosestellung beider Störungen erschweren. Wenn Kinder sehr jung mit einer ADHS diagnostiziert werden, dann kann das die Autismus-Diagnose um mehrere Jahre verzögern. Verkomplizierend kommt außerdem hinzu, dass beide Störungsbilder sich im Laufe der Entwicklung der Kinder verändern. Dabei ist die Korrelation von ADHS und Autismus während der Jugend am stärksten.