ADHS & Mythen

Um die Erkrankung ADHS ranken sich zahllose Mythen. Sicher haben die mitunter kontroversen Diskussionen rund um mögliche Sichtweisen auf das Phänomen ADHS bzw. dessen Existenz überhaupt ihren Anteil daran ebenso wie das im Oberflächenwissen der Gesellschaft fest verankerte Bild der beiden AD(H)S-Archetypen aus dem Struwwelpeter, Zappelphilipp und Hans-guck-in-die-Luft. Dabei lässt das Spektrum unserer eigentümlichen Mentalstruktur doch deutlich mehr Erscheinungsformen zu als jene zwei. Unterm Strich sind es nämlich genau so viele, wie es ADHSler gibt. Und ach ja, es gibt uns tatsächlich, da können manche Behandler „alter Schule“ gern gegen an wettern, so viel sie wollen, philosophisch gesehen ist es sowieso unmöglich zu beweisen, dass es etwas nicht gibt. So viel zur natürlichen Verteilung der Deutungshoheit über die eigene (wohl kaum zu leugnende) Existenz.

„ADHS ist - ebenso wie die Depression oder die Lust - keine Frage der Haltung, sondern der körpereigenen Neurochemie.”

Inwieweit da allerdings in Zyklen oder/und Kreisläufen irgendwelche überbordenden Neurotransmitter-Eruptionen die Amygdala reizen oder/und ihr entspringen, ihren oder/und den synaptischen Spalt erschüttern oder/und verschließen oder/und so das Limbische System zum Einsturz oder/und Einsatz bringen - darüber mag die Fachwelt sinnieren, ich kann nur erzählen, wie es mir mit der ganzen Angelegenheit geht. Das heißt im Klartext: Hier erfahren Sie auch nicht die letztgültige Wahrheit über ADHS, sondern nur das bescheidene Meinungsbild eines Betroffenen: mein Dasein, mein Erleben, mein Blog!

Ein Beitrag zur „Entmythifizierung"

Nun schwirren allerlei „Wahrheiten“ über ADHS durchs Internet und durch echte Köpfe, moderne Mythen über besondere Menschen, von deren Art schon immer welche auf Erden wandelten. Innerhalb der meisten Epochen unserer Geschichte, so die Historiker, wandelten sie sogar recht erfolgreich, nur, mit zunehmender Hyperkultivierung unserer Spezies wurde es schwieriger für uns. Im Zuge dieses Blogs wollen wir ein paar dieser Mythen genauer betrachten. Beginnen wollen wir mit einer unerhörten Kernaussage: ADHSler können sich nicht konzentrieren.

Nun wird ein Großteil der Leserschaft, ob nun selbst oder als Angehöriger betroffen, sagen: Stimmt, das ist doch das Kernproblem der ganzen Nummer. Aber die Medaille hat eine Kehrseite: Wir können uns nämlich ganz hervorragend konzentrieren. So sehr sogar, dass die Wissenschaft unserer spezifischen Spezialkonzentration einen Fachbegriff zur Seite gestellt hat, die Hyperfokussierung.

Wenn Begeisterung zur „Obsession" wird

Begeistert uns etwas, zeigen wir intrinsische Motivation, wollen es also aus uns selbst heraus wissen. Dann kann es gut passieren, dass wir uns so sehr in ein Thema hinein versenken, dass wir, und da fangen dann wieder neue Probleme an, alles andere ausblenden. Und wenn ich „alles“ schreibe, meine ich genau dies:
Uhrzeiten, andere Pflichten, finanzielle Mittel, dies alles wird dem momentanen Interesse so sehr untergeordnet, dass es ... schräg werden kann.

Auch da bitte ich, zwischen „unbehandelt“ und „behandelt“ im Sinne eines vorhandenen Bewusstseins zur Sache zu unterscheiden. Ich erkläre es immer gern so:
Wenn ich „früher“, ohne ein Bewusstsein für meine Mentalstruktur, mit dem intensiven Bedürfnis erwachte, z. B. rote Gummistiefel mein Eigen zu nennen, konnte es passieren, dass sämtliche Pflichten des Tages vergessen, zurückgestellt, unterlaufen und ignoriert wurden, um zwecks schnellstmöglicher Bedürfnisbefriedigung den Tag mit der Suche nach den optimalen roten Gummistiefeln zu verbringen. Das Internet, nicht nur des ADHSlers bestes Instrument zur „Tages-Verschluderung“, wurde zu Rate gezogen, die Läden der nächsten Stadt konsultiert, und wenn die nicht reichten, der Zug in die nächstgelegene Großstadt bestiegen. Wenn dafür krank gemacht werden musste, bitte schön, kein Problem, was ist schon ein ausgefallener Arbeitstag in Anbetracht der Unendlichkeit des Universums und der Verheißung, am Ende eines Tages rote Gummistiefel sein Eigen nennen zu können?

An dieser Stelle kann vielleicht der eine oder die andere verstehen, warum so schnöde, immer wiederkehrende Fleißaufgaben wie „Putzen“, „Wäsche“ oder „regelmäßige Mahlzeiten und Schlaf“ nicht die Dinge sind, die unseren Tag ordnen. Sie werden als eher vernachlässigbare Stolpersteinchen des Alltags bewertet, die man problemlos aus dem Weg prokrastinieren kann, behindern sie den hyperaktiven Freigeist doch nur in der Umsetzung seiner Visionen.
Also, während alles andere liegen bleibt, machen wir uns auf durchs Land, zielstrebig und hochkonzentriert. Wir nehmen die Gummistiefelfährte auf wie ein Pointer die der Wachtel, und nichts vermag uns von dieser Fährte abzubringen, bis das Ziel erreicht ist.

Umgang mit Autoritäten und Institutionen

Ganz anders sähe es aus, kommen der Chef oder die Partnerin, zwei Autoritätsformen, die man im Laufe des Lebens zähneknirschend aus Gründen des Sachzwangs anzuerkennen bereit ist, …

- Gedankensprung -

Sorry liebe Lehrer, ihr seid zu früh dran, nicht mal „normale“ Pubertierende sind willens, euch den Respekt zukommen zu lassen, den ihr fälschlicherweise beansprucht. Ihr meint, euer Amt reicht aus, dabei seid ihr es, die ihr euch beweisen müsst. Wie sollen wir es dann erst schaffen, die wir doch mit Argusaugen darauf achten, ob eine Sache einen Sinn hat oder ob es sich um hohle Regeln ohne Existenzberechtigung handelt. Wer kennt es nicht, das „Lehrersyndrom“? In ihrer Hybris fehlgeleitete Lehrkörper, die tatsächlich glauben, das Maß aller Dinge zu sein, immer Recht zu haben und sich als eine Art moralisch unantastbarer „Würdenträger“ missverstehen, die keine andere Meinung neben ihrer gelten lassen.
Ein gefundenes Fressen für ADHSler und ihren ausgeprägten Gerechtigkeitssinn bzw. ihr großes Herz für die Schwächeren.
Es ist nahezu unmöglich, bei einem solchen bornierten Gegenüber nicht aufzubegehren und so lange dagegenzuhalten, bis das Gegenüber begriffen hat, dass es auch nur mit Wasser kocht.

Ein Tipp an alle Lehrer: Lassen Sie Ihr Ego zu Hause, falls Ihr Beruf Sie nicht schon so weit verdorben hat, dass Ihnen nicht mehr möglich ist, zu erkennen, dass Sie ein Dienstleister sind, an dessen Wesen die Welt nicht genesen wird. Versuchen Sie, Ihre Kunden zu inspirieren und zu begeistern, anstatt weltfremd und anmaßend aufzutreten. Statt unsere Konzentration auf Antihaltung gegen jeglichen Lehr(er)-Zwang zu lenken, evozieren Sie bei uns doch einfach nur die Freude am Wissen und damit die Motivation zur Konzentration aufs Aneignen desselben! Und so Sie tatsächlich mal aufrichtige Rückmeldung Ihrer Schüler erhalten sollten („telling truth to power“ geht ja in der Schule meistens in die Hose), scheuen Sie eine selbstbewusste Introspektive und entsprechendes Umdenken nicht. Sie wären dann die Ausnahme von der Regel und Ihre Schüler werden es Ihnen danken:
Endlich mal einer, mit dem man tatsächlich reden kann und der es sich nicht in seinen dünkelhaften Floskeln und Fassaden so behaglich eingerichtet hat, dass er den Kontakt zur Lebenswirklichkeit anderer Menschen - also so ziemlich den meisten außer den anderen, von ihrer Unantastbarkeit geblendeten Irrläufern im Lehrerzimmer - völlig verloren hat. Diese selbstherrlich-bizarre Haltung, sie disqualifiziert solche Lehrer eigentlich komplett für das Unterrichten junger Menschen. Dennoch dürfen sie weiterhin frei in den Lehranstalten, Vereinen, Seminarräumen und kommunalpolitischen Settings dieses Landes schalten und walten, dass einem Angst und Bange werden kann.

Liebes Schulsystem, ein nicht unbeträchtlicher Teil deiner Protagonisten mit Schülerdirektkontakt ist fantasielos, engstirnig, Empathie-arm und vor allem nicht kritikfähig und hat ein verqueres bis krankhaft selbstgefälliges Selbstverständnis. Pädagogik jedoch ist Liebe und gutes Beispiel. Erkennst du das Dilemma?

- Gedankensprung zu Ende -

Aber wo waren wir? Ach ja, Cheffe und Liebste.
Während wir zweiterer immer noch gern Nerviges zu erfüllen bereit sind, weil wir sie doch lieben, machen wir es für den Chef aus Geldgründen. Aber selbst die reichen mitunter nicht aus, um das zu tun, was richtig wäre, so dass das Thema „Arbeit“ noch einmal gesondert zu betrachten ist.
Haben wir jedoch unsere Nische gefunden, sind behandelt, haben also ein Bewusstsein für unsere spezifischen Denk- und Handlungsmuster und „Hirnprogramme“, sind begeistert oder zumindest überzeugt, von dem was wir arbeiten, dann funktioniert es.
Unser Chef hat uns „erkannt“ und nimmt seinen Fürsorgeauftrag ernst. Er wird uns mit Projekten und Sonderaufgaben bedenken, die wir in Windeseile und mit Bravour ausführen werden, vorausgesetzt, es kommt währenddessen nicht zu Verwerfungen in anderen Lebensbereichen, die uns und unsere Hyperfokussierung so sehr binden, dass mal wieder alles ganz anders läuft als erwartet.

Bedeutung von Hobbys und Interessen

In Themen und eigenen Projekten versinken und dafür alles andere hinten anzustellen, das ist Segen und Fluch zugleich. Als Jugendlicher konnte ich mich für irgendeine Musikrichtung begeistern, mir in kürzester Zeit alles darüber aneignen (dies bedeutete Schule schwänzen, ab in die große Stadt und durch die Läden, ja so war es damals in Vinyl-seligen Zeiten), bis hin zu einem enzyklopädischen Wissen über das jeweilige Genre - ein Nerd zu sein kann für ADHSler ein Befreiungsschlag sein, trifft man doch plötzlich auf andere des gleichen Schlags und alles ist cool. Urplötzlich aber kommt das nächste Genre, und das plötzlich so uninteressante Vor-Genre wird zurück in die Plattenläden getragen, um Berge des Folgelieblings-Genres nach Haus tragen zu können, dieses wird man ja schließlich für immer lieben, ganz klar - aber huch, was hör ich denn da, was ist denn das Geiles? Ich wusste meine Umwelt durch abenteuerliche Genre-Schwenks (von Black Metal zu Old School Country, von Hardcore Techno zu Barock usw.) zu beeindrucken.
Noch mehr kann ich meine Familie erschrecken, seit es das Internet gibt. Laster, die aufgekaufte Comic-Sammlungen ankarren, die 3 Tage später wieder zugunsten einer nächtlich ersteigerten antiquarischen Hundebuchsammlung abgestoßen wurden, natürlich mit dickem monetärem Verlust, der zumindest mich so gar nicht juckt.
„Hans im Glück“ ist schon immer einer meiner großen ADHS-Helden gewesen. Würde ich hier die Themen meiner Interessen, die ich stets im Hyperfokus bearbeitet habe, aufschreiben, Ihnen würde schwindelig werden. Nur so viel, es geht so seit Kindesbeinen an.

Ruhe kehrt ein, Land ist in Sicht

Inzwischen bin ich moderater, die Themen haben eine längere Halbwertzeit und die Fähigkeit zur Hyperfokussierung konnte ich bei der Arbeit kultivieren, ein höchst geschickter Schachzug, wie ich finde. Und zu Hause ist mir die Selbstversenkung in der derzeit aktuellen Passion ein angenehmer Feierabend-Vertreib geworden, mehr nicht.

Als Jugendlicher herrschte bei mir ja noch das „Grisu-Prinzip“.
Mochte ich Detektivromane, war für diesen Zeitraum völlig klar, dass ich der geilste Privatdetektiv aller Zeiten werden würde.
Übrigens, ihr lieben jungen ADHSler: Verkennt den Drachen Grisu („Ich möchte Feuerwehrmann werden!“) nicht, bleibt am Ball eurer Visionen, eure Wirkkraft ist weit mächtiger, als Ihr euch vorstellen könnt. Und damit ist auch jeder Job grundsätzlich möglich. Horcht in euch rein, was ihr wollt, ganz dringend! Anders gesagt: Erweckt es nicht eure Leidenschaft, wird es kaum was werden.

„Werde ich beim Hyperfokussieren gestört, raste ich auch nicht mehr völlig aus!”

Niemand hat gesagt, wir wären nicht leicht ablenkbar und niemand hat gesagt, dies wäre uns egal. Ich schreie den Störenfried nicht mehr unangemessen zusammen - entschuldigt bitte, liebe Familienmitglieder, aber wie soll ich es denn zu etwas bringen, wenn ihr mich dauernd rausholt aus den guten Vibes? Inzwischen kann ich mit Fassung tragen, dass ich nicht das einzige Lebewesen mit gefühlter Mission auf Gottes Erden bin und dass die Interessen der anderen - die mich z.B. fragen, ob ich nun noch Abendbrot mache oder nicht - neben den meinen auch ihre Daseinsberechtigung haben (meistens jedenfalls).

Das Grundgerüst von ADHS mag irgendwo zwischen Koinzidenz und Fügung zu verorten sein, die Räume dazwischen aber füllen sich durch Sozialisation und Selbstverortung.
ADHSler bewegen sich immer auf dem Grat zwischen „Energy flows where attention goes“ und „Aus den Augen, aus dem Sinn“.
Irgendwo in diesem multidimensionalen Koordinatensystem finden wir uns wieder - und damit unsere Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse, unsere Interessen, Leidenschaften und Passionen. Von da an ist eigentlich alles ganz einfach, denn:
Bei der Sache bleiben, das können wir. Aber bitte: Stört uns nicht dabei, sondern lasst uns „unser Ding“ machen. Wir sind dann glücklich, tauchen ein darin und wachsen über uns hinaus, wenn man uns lässt, fragil und robust wie wir sind. Bitte.

ADHS bei Erwachsenen

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